Großmutterengramme
[0] Terracottafarbene Wände, Familienfotos in Sepia. Diese Art Fotos, deren Subjekte immer stolz und erhaben wirken. Die es heute so nicht mehr gibt. Ein weiches Sofa in der Mitte des Raumes, durch die offene Tür fallen Sonnenstrahlen. Kleine Staubkörner tanzen langsam und träge durchs Licht. Ein Teich ohne Wasser. Dafür aber ein Truthahn, der nicht mehr aus der Grube findet. Eine Fensterbank voll knallbunter Spielsachen. Die Spitzen der kurzen Gardinen kitzeln den kleinen Figuren den Kopf. Auf dem grau-weiß gefliesten Boden sticht ein kleines orangefarbenes rundes Etwas hervor. Es ist kein Smartie, sondern eine bittere Beta-Carotin Tablette.
[x] Wie schreibt man über eine Person, ohne die die eigene Existenz nicht möglich ist – die man aber hauptsächlich nur aus Erinnerungen kennt? Erinnerungen können trügen. Erinnern ist ein Prozess der Rekonstruierung. Ist das wirklich passiert, oder wünsche ich mir, dass es passiert ist? Vermischen sich hier zwei Erinnerungen und ergeben ein neues Gedankenbild in meinem Kopf? Erinnerung und Fantasie sind manchmal schwer zu unterscheiden. Großmütter sind kulturell aufgeladen, Projektionsfläche und Sehnsuchtsort. Ein Mensch hat(te) mindestens zwei Großmütter. Großmütter wissen alles und kümmern sich um dich, beschützen dich vor der grausamen Welt. Sie leisten Care Arbeit fast ein Leben lang und kochen am besten. Großmütter werden idealisiert. Sie sitzen auf einem Podest hoch oben, gebettet auf den schönen Erinnerungen ihrer Enkel*innen. Wenn eine Großmutter stirbt, treten an ihre Stelle bittere Abwesenheit und sehr viele Fragen. Wie Licht auf einem Film hinterlassen Erlebnisse im Gehirn eine Spur. Schreiben sich als Engramme ein und verändern die Struktur. Erinnerungen eingebrannt ins Gehirn. Ist das schon indexikalisch? Erinnerungen prägen uns, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie formen Identität. Ich versuche meine Großmütter in mir heraufzubeschwören, ich denke fest an sie, lasse Bilder von ihnen vor meinem innerem Auge auftauchen und das Phantom ihres Dufts meine Nase kitzeln. Gewisse Nervenzellen im Hirn werden immer dann aktiviert, wenn wir Gesichter sehen. Was wäre, wenn nur ein einzelnes Neuron für die Erinnerung an eine Person zuständig wäre? Das Modell zu dieser Theorie wurde Großmutterneuron genannt. Gäbe es dieses Großmutterneuron, hätte es die Leistungsfähigkeit des gesamten Gehirns. Ein Widerspruch. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass das Gesicht der Großmutter das Namensgebende war. Kein Widerspruch. Widersprüche würden entstehen, würde die Vergangenheit geändert werden. Das Großvaterparadoxon würde auftreten, wenn ein zukünftiges Ereignis das Eintreten eines vergangenen Ereignisses verhindert, das die Ursache für das zukünftige Ereignis war. So würde das zukünftige Ereignis verhindert werden. Ein Widerspruch. Der Name leitet sich von einem Gedankenexperiment ab: eine Person reist in die Vergangenheit und tötet den eigenen Großvater, bevor ihre Mutter oder ihr Vater geboren wurde – und verunmöglicht damit die eigene Existenz. Doch warum in die Vergangenheit reisen, um einen Mord zu begehen? Was würde ich sehen und erleben, würde ich in die Vergangenheiten meiner Großmütter reisen? Wie viel Freude, Wut, Trauer, Resilienz, Gewalt, Liebe würde ich erleben? Würde ich ihre Entscheidungen verstehen mit meinem Blick aus dem 21. Jahrhundert? Ich kenne nur Fragmente ihrer Erinnerungen, die sie in Erzählungen mit mir geteilt haben. Sie sind Teil meiner Erinnerung geworden, durch meine Gedanken gefiltert. Zeit ist geschichtet wie Sedimentgestein, die Vergangenheit immer auch eine Schicht auf dem gegenwärtigen Moment. Erinnerungen sind kleine Zeitreisen. Denke ich an meine Großmütter, reise ich in meine Vergangenheit, als ich noch Großmütter hatte.
[x^1] Der Körper ist voller Erinnerungen fein verstaut in den Knochen im Mark in den Muskeln im Fleisch und manchmal brechen sie aus aufflimmernde Wärme oder schneidende Kälte in der Brust ein leichtes Ziehen oder ein Prickeln ein wildes Aufflammen oder eine bitter-süße Sensation Erinnerung und Fantasie manchmal schwer zu trennen die Erinnerungen sind tief verbunden mit der Stadt bilden ein verästeltes Netzwerk wie die Neuronen und Blutgefäße ihres Mediums ein erster Kuss hier ein „ich liebe dich“ da eine (metaphorische) Ohrfeige dort Erinnerungen an Anfänge und Enden erste und letzte Male sind geladen klingen nach… für immer mit diesem jenen Moment und Ort verbunden in dem Moment wenn es passiert – Kuss „Ich liebe dich“ Knall geht die Erinnerung über in den Körper in die Knochen ins Mark in die Muskeln ins Fleisch die VergangenheitZukunft infiltriert zartschmelzend die Gegenwart flackert auf jedes mal wenn du diese Straße entlang gehst
[-2] Du sitzt auf einem Stuhl auf der hölzernen Terrasse und trägst ein hellblau-geblümtes Kleid. Eine dünne Decke liegt auf deinen Beinen. Du liest ohne Lesebrille, das finde ich beeindruckend. Ich gehe auf dich zu und du hebst den Blick von deiner Zeitschrift und lässt ihn zu meinem Gesicht wandern. Sehe ich Menschen an Bahnhöfen, die lächelnd diese Zeitschrift anbieten denke ich nie an dich. Obwohl du ihren Glauben teiltest verstand ich dies erst spät. Laut deiner Tochter, meiner Mutter, hast du immer gern gelesen. Ich ziehe einen Stuhl zu dir ran und setze mich, nehme vorsichtig deine Hand. Sie ist weich und warm, knorrig und adrig, gleichzeitig jung und alt. Du bist vier Mal so alt wie ich und trotzdem oder vielleicht genau deswegen erinnerst du mich an ein Vogeljunges. Durch die geöffnete Tür hinter dir sehe ich das sepiafarbene Portrait deiner Kinder an der Wand. Mit ihren Afros und weiten Kragen sehen sie aus wie eine Funkband. Früher hättest du uns Fufu gemacht, sagst du. Jetzt hast du dazu nicht mehr die Kraft. Wie viele Kilo Fufu du wohl in deinen 103 Jahren gestampft hast? Deine Hände und Arme wissen noch, wie es geht. Die Kraft mag deine Gliedmaßen verlassen haben, doch nicht die Erinnerung. Sie steckt noch tief in deinen Knochen, deinen Muskeln. Cremiges weiß und gelb verbinden sich langsam, die Kraft der Arme bringt sie zusammen, Stück für Stück. Die eine Hand lässt den großen hölzernen Stößel niederprasseln, die andere knetet flink und gekonnt die Masse, immer zwischen den Stößen, ein hypnotisches Hin- und Her. Deine Küche ist keine schnelle. Sie braucht Zeit und Ausdauer. Du hast sie an deine Tochter weitergegeben, aber nein, ganz so kitschig ist es nicht, keine geheimen Familienrezepte und YouTube half ihr auch und mir sowieso. Die Ausdauer wird belohnt, stärkehaltiges Essen versorgt den Körper mit Energie und insbesondere das Gehirn braucht viele Kohlehydrate. Deine Erinnerungen haben den Aggregatzustand gewechselt, sie sind anders beschaffen als meine. Das Vergessen kann vom Erinnern nicht getrennt werden. Aber Vergessen heißt nicht immer verschwinden, sondern nicht mehr an etwas denken können. Ich glaube nicht, dass du mich vergessen hast, dass ich komplett aus deinem Bewusstsein verschwunden bin. Irgendwo in deinem Körper gab es ein Wissen um mich. Zum Abschied hast du mir zwei Ratschläge mitgegeben, so als hättest du geahnt, dass wir uns vor deinem Tod nicht wiedersehen werden. Vielleicht werde ich mich an einen Ratschlag halten können. Fast. Du kamst an einem Montag auf die Welt, dein Name hat es festgehalten und du verließt die Welt an einem Montag. Ich möchte glauben, dass dieser Moment, in dem sich der Kreis von Montag zu Montag schloss für dich friedvoll war. Diesen Gedanken finde ich tröstlich während der Wagen mit deinem Körper begleitet von Hymnen abfährt und ich deinen Tod in diesem Moment realisiere, wirklich realisiere, noch deutlicher als beim Blick in den offenen Sarg und meine Tränen auf den heißen schwarzen Asphalt niederregnen und der Luft tröpfchenweise Feuchtigkeit spenden. Sprich mich ins Dasein Lass deine Lippen mich formen Vergiss mein nicht Erinnerungen spuken wie Gespenster Träume längst vergessener Erinnerungen Auf der Suche nach den Spuren der Zeit Erinnern und Vergessen untrennbar verbunden Lass deine Lippen mich formen Hilf mir zu erinnern Kolonialismus ist kultureller Genozid, der auf Auslöschung von Erinnerung abzielt. Eine ganze Art zu Leben soll verschwinden und überschrieben werden. Es kann nicht auf eine „authentische“ präkoloniale Kultur zurückgegriffen werden, doch es bleiben immer Spuren. In deinem Christentum zeigten sich auch solche Spuren. „Memory is master of death“ schreibt Wole Soyinka und ganz verschwinden wirst du nie. Hattest du wirklich eine dünne Decke um die Beine geschlungen, als wir uns zuletzt gesehen haben? Noch ist es nicht lange her, doch ich bin mir unsicher und irgendwann wird es lange her sein. Es macht keinen Unterschied, die Erinnerung ist immer noch schön. Erinnerungen sind nicht statisch, mit der Zeit verändern sie sich. Als Kind habe ich mir immer eine Technologie gewünscht, die Erinnerungen speichern und abspielen kann. Vielleicht wäre eine solche Technologie aber auch grausam, weil sie die Veränderungen, die das Ereignis beim Übergang in die Erinnerung durchläuft verhindern würde – ungefiltert.
[-1] Mein Name ist angelehnt an deinen. Deine Söhne und dein Mann haben alle unabhängig voneinander gesagt, dass wir uns ähnlich sind. Dass sie dein Gemüt in mir sehen. Diese Vorstellung finde ich schön. In dem Haus, das viele Kindheitserinnerung birgt, stapelten sich kistenweise Westernhefte mit kitschigen Covern, auf denen bärtige Cowboys rauchen und reiten, den Revolver im Anschlag. Du hast sie verschlungen, diese „Abenteuer.“ In meiner Vorstellung würden wir heute darüber sprechen, dass dies keine völlig harmlosen Geschichten sind. Du hättest mir von deiner Arbeit als Kommunalpolitikerin berichtet, die du sicherlich fortgeführt hättest, wärst du nicht krank geworden. Alle paar Schritte wurdest du auf der Straße gegrüßt, du warst bekannt in dieser Stadt. Wofür und für wen würdest du dich heute einsetzen in der Kommune? Wenn ich dein Gemüt habe, hattest du in einer Verstrickung von Zeitlichkeit dann auch meins? Würde ich dir erzählen, dass ich eine Freundin habe? Wärst du überrascht? Vielleicht nicht, ich war ein Tomboy in unserer kurzen Zeit zusammen. Ich glaube, du hast mich nie gezwungen, Kleider anzuziehen. Es gibt ein Foto von uns in deiner Küche, wir sind beide als Matrosen verkleidet. Im Hintergrund sieht man buntes Spielzeug auf der Fensterbank. Würden wir heute darüber reden, dass ich negative Erfahrungen in einer rassistisch geprägten Gesellschaft mache? Würdest du es verstehen? In der Stadt, in der das Haus steht, das viele Kindheitserinnerung birgt, habe ich gleichzeitig meine ersten rassistischen Erfahrungen gemacht. Kindergarten. Nachmittags. Weihnachtliche Malstunde. Ein großer Haufen dicker bunter Holzstifte türmt sich auf dem kleinem runden Tisch auf. Ein Kind malt den Nikolaus pfirsich-schweinchen-rosa – „hautfarben“. Ein anderes malt ihn braun. Schallendes Gelächter. „Der Nikolaus ist nicht braun!“ Ein kleines Kaufhaus. Nachmittags. Verkäuferinnen, die manchen auf Schritt und Tritt folgen, anderen nicht. „Guck mal Mama, zwei N*ger“. Eine Mutter lacht, eine andere muss ruhig bleiben und vor der Süßigkeitenablage bei den Center Shocks, Kaugummi Zigaretten und Apfelringen erklären, dass Menschen wie Blumen sind: es gibt viele verschiedene Farben, doch alle sind schön. Das Haus, das viele Kindheitserinnerung birgt. Früher Abend. Weihnachtszeit. Heißer Dampf steigt aus der Tasse mit der Diddlmaus und tanzt wabernde Schlieren in die Luft. Es klingelt. Drei singende kleine Könige. Ein Schuhcreme-schwarz beschmiertes Kindergesicht. Dick gemalte rote Lippen leuchten in der stillen Nacht, heiligen Nacht. Ich erinnere mich genau an das beklemmende Gefühl, das diese Erlebnisse in meiner Brust ausgelöst haben. Es sitzt tief in meinen Muskeln und in meinem Fleisch. Nach deinem Tod hatte ich Angst, dass du über die Jahre langsam aus meinen Erinnerungen verschwinden wirst. Verschwunden bist du nicht, doch während ich immer neue rassistische Erfahrungen mache, die unfreiwillig mein Gedächtnis auffrischen habe ich nur meine Kindheitserinnerungen an dich, an die ich mich klammern kann. Als du starbst, war die Stadt in weichen weißen Schnee gehüllt. Er knirschte unter meinen kleinen Stiefeln bei dem Spaziergang mit deinem Sohn, nachdem er uns erzählte, dass du gestorben warst. Der Schnee fing meine heißen Tränen auf und verschlang sie mit kalter Zunge.
[x±2] Es gibt noch eine weitere Theorie, die sich an Großmütter anlehnt. Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist das Weiterleben sinnlos, wenn die fruchtbaren Jahre zu Ende sind und damit keine Fortpflanzung mehr möglich ist. Die Großmutter-Hypothese will erklären, warum es die Menopause beim Menschen gibt: Großmütter unterstützen ihre Kinder bei der Kindererziehung. So tragen sie dazu bei, dass ihre Enkel*innen überleben und sich damit ihre Gene weiterverbreiten. Ob meine Großmütter für mich gesorgt haben, aus der Ferne und der Nähe, um die Verbreitung ihrer Gene zu sichern, ist fraglich. Ob ich ihre Gene weitergeben werde, ist mehr als fraglich. Wie schreibt man über eine Person, ohne die die eigene Existenz nicht möglich ist – die man aber hauptsächlich nur aus Erinnerungen kennt? Erinnerungen bleichen aus, verändern sich, drohen zu verschwinden. Ich habe keine Großmütter mehr, doch ich transkribiere Großmutterengramme. Wole Soyinka, Death and the King’s Horseman (London: Bloomsbury, 1982).
Dieser Text gewann den 2. Platz beim Kölner Förderpreis für junge Literatur 2024, sowie den Publikumspreis.